Januar: Jelängerjelieber oder Geißblatt (Lonicera caprifolium)

Lehmann
Über den Knickhecken zu seiten der Landwege schwanken die Lianen unserer Gegend, die Ranken des Jelängerjeliebers, immer am frühesten grün und vor der stärksten Kälte nicht bange. Bukolisches Tagebuch, 1. Januar 1929.

Das Geißblatt ist eine heimische Liane mit vielen, oft geheimnisvollen Namen: im Norden Deutschland ist sie oft als Jelängerjelieber bekannt, vermutlich, weil sie von Mai bis spät in den September hinein durchgehend blüht, länger als fast jede andere heimische Pflanze. Die auf merkwürdige Weise paarig verwachsenen Hochblätter ähneln einem Geißfuß. Vielleicht heißen sie aber auch Geißblatt, weil die Ziegen auf die aromatisch schmeckenden Blätter geradezu versessen sind. Auch der lateinische Namen Lonicera caprifolium ("ziegenblättrig") spielt darauf an - der Gattungsname erinnert an den spätmittelalterlichen Botaniker Adam Lonitzer. Der englische Name, Honeysuckle, ist dagegen sehr einfach zu deuten: Die intensiv duftenden Blüten sind tatsächlich voll süßen Nektars und daher vor allem für Nachtfalter attraktiv. Das ist vermutlich der Grund, warum sie ihren betörenden Duft besonders nach Mitternacht entfalten. Dirigiert wird dieses Geschehen von einem Pflanzenhormon namens Jasmonsäure. Der Name erinnert daran, dass dieses Hormon ursprünglich als Bestandteil des Jasmindufts entdeckt wurde. Während des Tages wird Jasmonsäure durch den Sehfarbstoff Phytochrom unterdrückt, der durch das Sonnenlicht aktiviert und infolge dieser Aktivierung später abgebaut wird. Wenn nun nach Sonnenuntergang das am Nachmittag aktivierte Phytochrom verschwindet und aufgrund der Dunkelheit kein weiteres Phytochrom mehr angeschaltet wird, verklingt gewissermaßen die Erinnerung des Tages, bis schließlich die Jasmonsäure geweckt wird.

Doch von all diesen Geheimnissen des Sommers ist im zeitigen Januar noch nichts zu spüren. Freilich treiben die Blätter des Jelängerjelieber schon im Hochwinter aus, "immer am frühesten grün und vor der stärksten Kälte nicht bange", wie Lehmann zutreffend feststellt. Das müssen sie auch - denn wenn sich die Knickhecke, in der Lehmann das Jelängerjelieber angetroffen hat, einige Woche später belaubt, beginnt ein gnadenloser Kampf um das lebensspendende Sonnenlicht. Aber bis das so weit ist, hat sich das Geißblatt schon verproviantiert - die Photosynthese funktioniert nämlich auch bei den recht niedrigen Temperaturen des zeitigen Frühjahrs recht gut. Natürlich nur dann, wenn man schon Blätter ausgetrieben hat. Das Jelängerjelieber hat hier gegenüber seinen Konkurrenten einen beträchtlichen Vorteil, weil es seine jungen Blätter mit einer Art Frostschutz-Protein gegen die Härten des Januarfrosts zu wappnen versteht, die darum "vor der stärksten Kälte nicht bange" zu sein brauchen. Da das Jelängerjelieber außerdem darauf verzichtet, sich aus eigener Kraft aufzurichten und so zum Licht zu gelangen, sondern stattdessen als Liane auf den Zweigen anderer Pflanzen schnell und kräftesparend nach oben gelangt, hat es dann genügend Energie angesammelt, um dann von Frühling bis Herbst seine sowohl optisch als auch olfaktorisch verschwenderischen Blüten entfalten zu können.