2020_01 Mikrotubuli messen Zeit
Worum geht es?
Pflanzen können nicht davonlaufen, wenn ihnen die Umwelt nicht passt. Sie müssen sich anpassen. Um sich anpassen zu können, müssen sie zunächst wahrnehmen können, dass sich die Umwelt zu ihren Ungunsten verändert hat. Dies ist eine komplexe Angelegenheit, da die Pflanze unterschiedlichen Stressfaktoren ausgesetzt ist und ihre Anpassung auch davon abhängt, welchen Faktoren sie zuvor schon ausgesetzt war. Wenn eine Reaktion auf einen Reiz sich abhängig von den vorangegangenen Reizen und den Reaktionen darauf ändert, ist das nichts Anderes als ein Lernprozess, etwas, das wir gewöhnlich nur Organismen zusprechen, die mit einem Nervensystem ausgestattet sind.
Können Pflanzen also "lernen"? Sie haben doch weder Nerven noch Gehirn!
Was war unsere Idee?
In der Tat lassen sich solche "Lernprozesse" beobachten, beispielsweise in der Antwort auf Kältestress. Durch eine Vorbehandlung mit kühlen, aber nicht sehr kalten Temperaturen lassen sich viele Pflanzen frosthart machen. Diese Kälteakklimation hängt mit den Mikrotubuli zusammen. In einer früheren, inzwischen sehr viel zitierten Arbeit (Abdrakhamanova et al. 2003) konnten wir zeigen, dass sibirischer Winterweizen deshalb so gut mit Frost zurechtkommt, weil die Mikrotubuli in einer frühen Phase sehr sensitiv reagieren und sich besonders schnell abbauen, wodurch die Anpassungsreaktionen besonders schnell und stark angeschaltet werden. Mithilfe von Rebenzellen, bei denen die Mikrotubuli mithilfe des Grün-Fluoreszenten Proteins in flagranti beobachtet werden können, konnten wir zeigen, dass die Mikrotubuli über die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies an der Membrans und einen Calciumeinstrom angesteuert werden. Die Auflösung der Mikrotubuli wirkt wiederum verstärkend auf diese Eingangssignale zurück (mehr dazu...). In einer weiteren Arbeit (Wang et al. 2019) konnten wir dann nachweisen. Dass die Mikrotubuli für die "Erinnerung" an frühere Kälteerfahrungen notwendig sind.
Inzwischen konnten, vor allem über molekulargenetische Arbeiten, zahlreiche Gene nachgewiesen werden, die für die pflanzliche Anpassung an Kälte wichtig sind. Freilich sind die Befunde widersprüchlich und verwirrend - manchmal wird ein solches Gen als förderlich für die Anpassung beschrieben, ein andermal als hemmend. Wir denken, dass dieser Wirrwarr dadurch entstanden ist, dass man die Zeit ignoriert hat. Molekulargenetische Arbeiten liefern sozusagen "Schnappschüsse", um den Vorgang verstehen zu können, muss man aber einen Film drehen. Aus unseren Arbeiten wissen wir, dass die Mikrotubuli als pflanzlicher Thermometer fungieren. Wir wissen weiterhin, dass dieser Thermometer abhängig davon, was er früher gemessen hat, unterschiedlich misst. Die Geschichte der vergangenen Messungen beeinflusst also die künftigen. Ein solches Phänomen ist aus der Sinnesphysiologie bekannt und wird als Weber-Fechner-Gesetz bezeichnet - die Reaktion auf einen Reiz ist nicht konstant, sondern hängt von den vorangegangenen Reizen ab. Dies bildet die Grundlage für Lernen.
Was kam heraus?
Wir schlagen vier Möglichkeiten für die Verarbeitung von Reizen vor (chemische oder physikalische Reize, kein Lernfortschritt oder Lernen aus Erfahrung). Wir können die recht komplexen Beobachtungen auf der Grundlage eines Lernmodells erklären. Die Mikrotubuli verändern sich abhängig davon, wie stark sie in die Reizverarbeitung eingebunden waren, sind also der Kern dieses pflanzlichen Lernvorgangs. Nebenbei können wir durch die Berücksichtigung der Zeitlichkeit die verwirrende und widersprüchliche Datenlage zu molekularen Faktoren der Kälteanpassung ordnen, vereinfachen und klären. Pflanzen sind lernfähig, obwohl sie nicht über Nerven oder Gehirn verfügen. Sie verfügen jedoch über Mikrotubuli.
Veröffentlichung
[49] Wang L, Sadeghnejad E, Nick P (2020) Upstream of gene expression - what is the role of microtubules in cold signalling? J Exp Bot 71, 36-48. pdf